Requirements Engineering (RE) gewinnt immer mehr Beachtung in unterschiedlichsten Branchen. Doch bei der Einführung und langfristigen Etablierung eines RE-Prozesses besteht immer wieder die Frage, was „richtig“ oder zumindest „gut genug“ im eigenen Unternehmenskontext ist. Glaubt man Schulungsanbietern und Beratern, so ist gutes RE primär eine Frage der Methode und individueller Skills [1][2]. Glaubt man Toolherstellern, so ist gutes RE maßgeblich von der verwendeten Werkzeugunterstützung abhängig. Doch was davon ist richtig? Und steht dies im Widerspruch oder sind es nur verschiedene Facetten, die allesamt für das Gelingen eines erfolgreichen RE notwendig sind? Dieser Artikel versucht anhand aktueller Herausforderungen im Requirements Engineering eine Antwort hierauf zu finden und zeigt anhand der Analogie zu einer Reise auf, dass vielmehr dem Aspekt „Arbeitskultur“ Beachtung geschenkt werden sollte.
Betrachten man die Auswertung der Umfrage „RE Kompass 2014/2015“ [3] so findet man eine Vielzahl von Herausforderungen mit denen sich Praktiker im RE derzeit konfrontiert sehen, u.a.
- Finden des richtigen Detailgrads (69%)
- Anforderungserhebung generell (37%)
- Anforderungsdokumentation generell (35%)
- Wiederverwendung und Standardisierung von Anforderungen (33%)
- Handhabung von Änderungen (29%)
- Festlegung von Anforderungen (28%)
- Feststellen der Vollständigkeit (24%)
- Modellierung von Anforderungen (23%)
- Sicherstellung der Nachverfolgbarkeit (22%)
Analysiert man diese Herausforderungen etwas genauer, stellt man fest, dass sich diese im Wesentlichen in die Bereiche „Methodische Unklarheit“, „(Zwischen)menschliche Aspekte“ und „Skalierungsherausforderungen“ unterteilen lassen. So ist beispielsweise das Finden des richtigen Detailgrads oftmals eine methodische Unklarheit, während Probleme bei der Festlegung von Anforderungen zumeist auf menschliche Aspekte wie begrenzte Entscheidungsfreudigkeit oder Kommunikationsfähigkeit zurückzuführen sind. Sicherstellung von Nachverfolgbarkeit oder Handhabung von Änderungen sind hingegen Beispiele für Skalierungsherausforderungen, da sie erst mit einer gewissen Anzahl von Anforderungen zum Problem werden.
Aufgrund dieser drei wesentlichen Gruppen von Herausforderungen, die sich übrigens in jedem Projekt wiederfinden, sind wir der Auffassung, dass sich diese weder mit Methoden noch mit Werkzeugen allein bewerkstelligen lassen. Vielmehr benötigt man gleichermaßen adäquate Methoden (adressiert „methodische Unklarheit“, also wie man etwas tun kann), Werkzeuge (adressiert „Skalierungsproblem“, also, dass man etwas auch im großen Umfang noch tun kann), Kommunikations- und Arbeitskultur (adressiert „(Zwischen)menschliche Aspekte“, also, ob man überhaupt etwas tun kann) um RE erfolgreich durchzuführen.
Verglichen mit einer Reise weisen Methoden also den Weg zum Ziel, während Werkzeuge das Fortbewegungsmittel darstellen und die Kultur den Untergrund repräsentiert, auf dem man sich bewegt. Aus dieser Analogie ist offensichtlich, dass man in der Regel alles davon braucht: Ohne einen klaren Weg (Methode) wird man entweder gar nicht bzw. nur zufällig oder mit Umwegen sein Ziel erreichen. Ohne ein Fortbewegungsmittel (Werkzeug) wird es ggf. lange dauern bis man sein Ziel erreicht, sofern man nicht schon vorher an Erschöpfung aufgibt. Und schließlich hängt es maßgeblich vom Untergrund (Kultur) ab, ob man auf gewissen Wegen überhaupt wie geplant vorwärtskommt.
In unserer langjährigen Beratungspraxis haben wir jedoch immer wieder erlebt, dass insbesondere bei der „Kommunikations- und Arbeitskultur“ noch erheblicher Nachholbedarf besteht. Dies betrifft insbesondere die Zusammenarbeit in der Anforderungsermittlung wie sie meist in Besprechungen und Workshops stattfindet. Dabei können bereits einige einfache Maßnahmen hierbei deutliche Verbesserungen ermöglichen.
Im Folgenden stellen wir einige Maßnahmen vor, mit denen die Arbeitskultur bei der Anforderungsermittlung dahingehend gesteigert werden kann, dass eine solide Grundlage für RE geschaffen ist. Auch wenn diese Maßnahmen auf den ersten Blick „trivial“ erscheinen, so zeigt die industrielle Praxis hier immer wieder erhebliche Defizite auf, weshalb uns eine explizite Motivation an dieser Stelle gerechtfertigt erscheint.
Vorbereitet sein: Gute Vorbereitung ist essentiell für jede einzelne Besprechung in der Anforderungsermittlung. Dazu gehört eine klare Zielsetzung, Stakeholderidentifikation und Moderatorensuche, aber auch die eigentliche Vorbereitung des Workshops hinsichtlich Agenda, Leitfragen, Techniken für die Beantwortung der Leitfragen (z.B. Kartenabfrage), Bereitstellung von Moderationsmaterial, Catering, Raumbuchung, etc. Tut man dies nicht verliert man unnötig Zeit und gar Motivation bei den Beteiligten während der Besprechung!
Einen klaren Fokus setzen: Besprechungen zur Anforderungserhebung sollten sich jeweils immer nur mit bestimmten Teilthemen eines Projekts auseinandersetzen [4], als in einem „generellen Anforderungsworkshop“ auszuarten. Dadurch können die richtigen Stakeholder viel einfacher hinzugezogen werden, bessere Diskussionen entfachen, zielgerichteter und konzentrierter arbeiten und letztendlich in kürzerer Zeit viel mehr rausholen. Die Erfahrung zeigt: Vier Workshops von jeweils zwei Stunden sind oft ergebnisreicher als ein einzelner Ganztagesworkshop.
(Nur) die richtigen Leute einladen: Stakeholder sind wichtig, aber nicht alle zu jeder Zeit. Wenn es zum Beispiel um technische Schnittstellen zu Drittsystemen gibt, braucht in der Regel niemand vom Fachbereich teilzunehmen. Für jeden Workshop sollten deshalb gesondert die Personen identifiziert werden, die sich bzgl. des jeweiligen Teilthemas auskennen und hier Probleme, Anforderungen oder gar Lösungsideen beitragen können. Ähnlich zum vorherigen Punkt kann in einer kleinen Gruppe viel effektiver gearbeitet werden („zu viele Köche… [2]“). Zudem wird die Terminfindung erheblich erleichtert.
Entscheidungsbefugnisse erteilen: Personen, die in Besprechungen teilnehmen, sollen Entscheidungen treffen wollen und dürfen. Repräsentanten einer Stakeholdergruppe (z.B. Abteilung) sollten von Vorgesetzten vorab entsprechende Entscheidungsbefugnis erhalten haben – alternativ sollte der Entscheider [2] selbst eingeladen werden, wenn er / sie seinen Angestellten entsprechende Befugnis nicht erteilen möchte. Ohne Entscheidungsbefugnisse verzögert sich der Anforderungsprozess signifikant, da häufig langwierige Abstimmungen nach dem Workshop stattfinden müssen oder gar getroffene Beschlüsse revidiert werden.
Einen unbefangene Moderator einsetzen: Moderation ist das A und O einer erfolgreichen Anforderungsermittlung. Ein fähiger (erfahrener) Moderator / eine fähige Moderatorin ist hierbei die Grundvoraussetzung. Es ist hierbei viel wichtiger, dass diese Person über Moderationsgeschick verfügt und auch Mut für „dumme“ Fragen hat, als dass sich diese Person in der Projektthematik auskennt. Folglich muss diese Rolle auch nicht aus dem Projektteam besetzt werden, sondern sollte sogar von einem/einer Kollegen/in aus einer anderen Abteilung oder gar einem Externen übernommen werden, der eine gewisse Distanz zum Projektinhalt hat und somit eine Verstrickung in länglichen Detaildiskussionen ohne Ergebnis im Hinblick auf das angestrebte Besprechungsziel vermeiden kann.
Entscheidungen treffen: Die Anforderungsermittlung ist kein Selbstzweck, sondern soll grundlegende Weichen für ein Projekt stellen. Daher sollte keine Besprechung ohne gefasste Beschlüsse beendet werden. Bewusst und möglichst gemeinschaftlich sollte entschieden werden, welche der Ideen und Vorschläge, die vorgebracht wurden, als „echte“ Anforderung aufgenommen werden sollen. Priorisierungs- und Verhandlungstechniken [1][2] sollten eingesetzt werden, wenn die Festlegung nicht so einfach durchzuführen ist.
Ergebnisse dokumentieren: Die Entscheidungen, die im Rahmen von Besprechungen getroffen wurden, sollten schnellstmöglich in Anforderungen überführt und angemessen dokumentiert werden. Klärungspunkte und sonstige Anmerkungen, zu denen noch keine Entscheidungen getroffen werden konnten, sollten in einem entsprechenden Protokoll dokumentiert und explizit zur Planung weiterer Schritte in der Anforderungsanalyse genutzt werden. Eine verzögerte Dokumentation führt häufig zu verzerrten oder gar falschen Anforderungen und erfordert unnötige Korrekturen.
Kultur, Methode und Werkzeug sind allesamt wichtig um RE erfolgreich betreiben zu können. In einschlägigen Schulungsangeboten und Lehrbüchern im Requirements Engineering wird jedoch fast ausschließlich die methodische Komponente beleuchtet, ohne ausreichend auf den Nutzen von Werkzeugen sowie die Notwendigkeit einer soliden Arbeitskultur ausreichend einzugehen. Dabei zeigt sich jedoch in jüngerer Vergangenheit immer mehr, dass viele methodische Fragestellungen inzwischen zunehmend von „intelligenten“ Werkzeugen wie unserer ReqSuite® automatisiert werden können (hier ist die Analogie zu Assisted Driving passend), weshalb der Arbeitskultur in der RE-Ausbildung zukünftig eine viel größere Rolle eingeräumt werden sollte.
Quellen
- Pohl, K., Rupp, C.: Basiswissen Requirements Engineering, dpunkt (2011)
- Wiegers, K., Beatty, J.: Software Requirements, Third Edition, Microsoft Press (2013)
- Adam, S., Wünch, C., Seyff, N.: RE-Kompass 2014/2015 – Ergebnisbericht, http://www.re-kompass.de, (2014)
- Adam, S., Riegel, N., Doerr, J.: TORE – A Framework for Systematic Requirements Development in Information Systems, Requirements Engineering Magazine (4), IREB (2014)